»Was ist das?« fragte er den Maler. »Worьber staunen Sie?« fragte dieser, seinerseits staunend. »Es sind die Gerichtskanzleien. WuЯten Sie nicht, daЯ hier Gerichtskanzleien sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehцrt eigentlich zu den Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur Verfьgung gestellt.« K. erschrak nicht so sehr darьber, daЯ er auch hier Gerichtskanzleien gefunden hatte, er erschrak hauptsдchlich ьber sich, ьber seine Unwissenheit in Gerichtssachen. Als eine Grundregel fьr das Verhalten eines Angeklagten erschien es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemals ьberraschen zu lassen, nicht ahnungslos nach rechts zu schauen, wenn links der Richter neben ihm stand – und gerade gegen diese Grundregel verstieЯ er immer wieder. Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem eine Luft wehte, mit der verglichen die Luft im Atelier erfrischend war. Bдnke waren zu beiden Seiten des Ganges aufgestellt, genau so wie im Wartezimmer der Kanzlei, die fьr K. zustдndig war. Es schienen genaue Vorschriften fьr die Einrichtung von Kanzleien zu bestehen. Augenblicklich war der Parteienverkehr hier nicht sehr groЯ. Ein Mann saЯ dort halb liegend, das Gesicht hatte er auf der Bank in seine Arme vergraben und schien zu schlafen; ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges. K. stieg nun ьber das Bett, der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen bald einen Gerichtsdiener – K. erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an dem Goldknopf, den diese an ihrem Zivilanzug unter den gewцhnlichen Knцpfen hatten – und der Maler gab ihm den Auftrag, K. mit den Bildern zu begleiten. K. wankte mehr, als er ging, das Taschentuch hielt er an den Mund gedrьckt. Sie waren schon nahe am Ausgang, da stьrmten ihnen die Mдdchen entgegen, die also K. auch nicht erspart geblieben waren. Sie hatten offenbar gesehen, daЯ die zweite Tьr des Ateliers geцffnet worden war und hatten den Umweg gemacht, um von dieser Seite einzudringen. »Ich kann Sie nicht mehr begleiten!« rief der Maler lachend unter dem Andrang der Mдdchen. »Auf Wiedersehen! Und ьberlegen Sie nicht zu lange!« K. sah sich nicht einmal nach ihm um. Auf der Gasse nahm er den ersten Wagen, der ihm in den Weg kam. Es lag ihm daran, den Diener loszuwerden, dessen Goldknopf ihm unaufhцrlich in die Augen stach, wenn er auch sonst wahrscheinlich niemanden auffiel. In seiner Dienstfertigkeit wollte sich der Diener noch auf den Kutschbock setzen. K. jagte ihn aber hinunter. Mittag war schon lдngst vorьber, als K. vor der Bank ankam. Er hдtte gern die Bilder im Wagen gelassen, fьrchtete aber, bei irgendeiner Gelegenheit genцtigt zu werden, sich dem Maler gegenьber mit ihnen auszuweisen. Er lieЯ sie daher in sein Bьro schaffen und versperrte sie in die unterste Lade seines Tisches, um sie wenigstens fьr die allernдchsten Tage vor den Blicken des Direktor-Stellvertreters in Sicherheit zu bringen.
Achtes Kapitel Kaufmann Block, Kьndigung des Advokaten
Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine Vertretung zu entziehen. Zweifel daran, ob es richtig war, so zu handeln, waren zwar nicht auszurotten, aber die Ьberzeugung von der Notwendigkeit dessen ьberwog. Die EntschlieЯung hatte K. an dem Tage, an dem er zum Advokaten gehen wollte, viel Arbeitskraft entzogen, er arbeitete besonders langsam, er muЯte sehr lange im Bьro bleiben, und es war schon zehn Uhr vorьber, als er endlich vor der Tьr des Advokaten stand. Noch ehe er lдutete, ьberlegte er, ob es nicht besser wдre, dem Advokaten telephonisch oder brieflich zu kьndigen, die persцnliche Unterredung wьrde gewiЯ sehr peinlich werden. Trotzdem wollte K. schlieЯlich auf sie nicht verzichten, bei jeder anderen Art der Kьndigung wьrde diese stillschweigend oder mit ein paar fцrmlichen Worten angenommen werden, und K. wьrde, wenn nicht etwa Leni einiges erforschen kцnnte, niemals erfahren, wie der Advokat die Kьndigung aufgenommen hatte und was fьr Folgen fьr K. diese Kьndigung nach der nicht unwichtigen Meinung des Advokaten haben kцnnte. SaЯ aber der Advokat K. gegenьber und wurde er von der Kьndigung ьberrascht, so wьrde K., selbst wenn der Advokat sich nicht viel entlocken lieЯ, aus seinem Gesicht und seinem Benehmen alles, was er wollte, leicht entnehmen kцnnen. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daЯ er ьberzeugt wurde, daЯ es doch gut wдre, dem Advokaten die Verteidigung zu ьberlassen und daЯ er dann seine Kьndigung zurьckzog.
Das erste Lдuten an der Tьr des Advokaten war, wie gewцhnlich, zwecklos. »Leni kцnnte flinker sein«, dachte K. Aber es war schon ein Vorteil, wenn sich nicht die andere Partei einmischte, wie sie es gewцhnlich tat, sei es, daЯ der Mann im Schlafrock oder sonst jemand zu belдstigen anfing. Wдhrend K. zum zweitenmal den Knopf drьckte, sah er nach der anderen Tьr zurьck, diesmal aber blieb auch sie geschlossen. Endlich erschienen an dem Guckfenster der Tьr des Advokaten zwei Augen, es waren aber nicht Lenis Augen. Jemand schloЯ die Tьr auf, stemmte sich aber vorlдufig noch gegen sie, rief in die Wohnung zurьck: »Er ist es!« und цffnete erst dann vollstдndig. K. hatte gegen die Tьr gedrдngt, denn schon hцrte er, wie hinter ihm in der Tьr der anderen Wohnung der Schlьssel hastig im SchloЯ gedreht wurde. Als sich daher die Tьr vor ihm endlich цffnete, stьrmte er geradezu ins Vorzimmer und sah noch, wie durch den Gang, der zwischen den Zimmern hindurchfьhrte, Leni, welcher der Warnungsruf des Tьrцffners gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte ihr ein Weilchen nach und sah sich dann nach dem Tьrцffner um. Es war ein kleiner, dьrrer Mann mit Vollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. »Sie sind hier angestellt?« fragte K. »Nein«, antwortete der Mann, »ich bin hier fremd, der Advokat ist nur mein Vertreter, ich bin hier wegen einer Rechtsangelegenheit.« »ohne Rock?« fragte K. und zeigte mit einer Handbewegung auf die mangelhafte Bekleidung des Mannes. »Ach, verzeihen Sie!« sagte der Mann und beleuchtete sich selbst mit der Kerze, als sдhe er selbst zum erstenmal seinen Zustand. »Leni ist Ihre Geliebte?« fragte K. kurz. Er hatte die Beine ein wenig gespreizt, die Hдnde, in denen er den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch den Besitz eines starken Ьberrocks fьhlte er sich dem mageren Kleinen sehr ьberlegen. »O Gott«, sagte der und hob die eine Hand in erschrockener Abwehr vor das Gesicht, »nein, nein, was denken Sie denn?« »Sie sehen glaubwьrdig aus«, sagte K. lдchelnd, »trotzdem – kommen Sie.« Er winkte ihm mit dem Hut und lieЯ ihn vor sich gehen. »Wie heiЯen Sie denn?« fragte K. auf dem Weg. »Block, Kaufmann Block«, sagte der Kleine und drehte sich bei dieser Vorstellung nach K. um, stehenbleiben lieЯ ihn aber K. nicht. »Ist das Ihr wirklicher Name?« fragte K. »GewiЯ«, war die Antwort, »warum haben Sie denn Zweifel?« »Ich dachte, Sie kцnnten Grund haben, Ihren Namen zu verschweigen«, sagte K. Er fьhlte sich so frei, wie man es sonst nur ist, wenn man in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles, was einen selbst betrifft, bei sich behдlt, nur gleichmьtig von den Interessen der anderen redet, sie dadurch vor sich selbst erhцht, aber auch nach Belieben fallen lassen kann. Bei der Tьr des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K. stehen, цffnete sie und rief dem Kaufmann, der folgsam weitergegangen war, zu: »Nicht so eilig! Leuchten Sie hier!« K. dachte, Leni kцnnte sich hier versteckt haben, er lieЯ den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber das Zimmer war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K. den Kaufmann hinten an den Hosentrдgern zurьck. »Kennen Sie den?« fragte er und zeigte mit dem Zeigefinger in die Hцhe. Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelnd hinauf und sagte: »Es ist ein Richter.« »Ein hoher Richter?« fragte K. und stellte sich seitlich vor den Kaufmann, um den Eindruck, den das Bild auf ihn machte, zu beobachten. Der Kaufmann sah bewundernd aufwдrts. »Es ist ein hoher Richter«, sagte er. »Sie haben keinen groЯen Einblick«, sagte K. »Unter den niedrigen Untersuchungsrichtern ist er der niedrigste.« »Nun erinnere ich mich«, sagte der Kaufmann und senkte die Kerze, »ich habe es auch schon gehцrt.« »Aber natьrlich«, rief K., »ich vergaЯ ja, natьrlich mьssen Sie es schon gehцrt haben.« »Aber warum denn, warum denn?« fragte der Kaufmann, wдhrend er sich, von K. mit den Hдnden angetrieben, zur Tьr fortbewegte. DrauЯen auf dem Gang sagte K.: »Sie wissen doch, wo sich Leni versteckt hat?« »Versteckt?« sagte der Kaufmann, »nein, sie dьrfte aber in der Kьche sein und dem Advokaten eine Suppe kochen.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« fragte K. »Ich wollte Sie ja hinfьhren, Sie haben mich aber wieder zurьckgerufen«, antwortete der Kaufmann, wie verwirrt durch die widersprechenden Befehle. »Sie glauben wohl sehr schlau zu sein«, sagte K., »fьhren Sie mich also!« In der Kьche war K. noch nie gewesen, sie war ьberraschend groЯ und reich ausgestattet. Allein der Herd war dreimal so groЯ wie gewцhnliche Herde, von dem ьbrigen sah man keine Einzelheiten, denn die Kьche wurde jetzt nur von einer kleinen Lampe beleuchtet, die beim Eingang hing. Am Herd stand Leni in weiЯer Schьrze, wie immer, und leerte Eier in einen Topf aus, der auf einem Spiritusfeuer stand. »Guten Abend, Josef«, sagte sie mit einem Seitenblick. »Guten Abend«, sagte K. und zeigte mit einer Hand auf einen abseits stehenden Sessel, auf den sich der Kaufmann setzen sollte, was dieser auch tat. K. aber ging ganz nahe hinter Leni, beugte sich ьber ihre Schulter und fragte: »Wer ist der Mann?« Leni umfaЯte K. mit einer Hand, die andere quirlte die Suppe, zog ihn nach vorn zu sich und sagte: »Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein armer Kaufmann, ein gewisser Block. Sieh ihn nur an.« Sie blickten beide zurьck. Der Kaufmann saЯ auf dem Sessel, auf den ihn K. gewiesen hatte, er hatte die Kerze, deren Licht jetzt unnцtig war, ausgepustet und drьckte mit den Fingern den Docht, um den Rauch zu verhindern. »Du warst im Hemd«, sagte K. und wendete ihren Kopf mit der Hand wieder dem Herd zu. Sie schwieg. »Er ist dein Geliebter?« fragte K. Sie wollte nach dem Suppentopf greifen, aber K. nahm ihre beiden Hдnde und sagte: »Nun antworte!« Sie sagte: »Komm ins Arbeitszimmer, ich werde dir alles erklдren.« »Nein«, sagte K., »ich will, daЯ du es hier erklдrst.« Sie hing sich an ihn und wollte ihn kьssen. K. wehrte sie aber ab und sagte: »Ich will nicht, daЯ du mich jetzt kьЯt.« »Josef«, sagte Leni und sah K. bittend und doch offen in die Augen, »du wirst doch nicht auf Herrn Block eifersьchtig sein. – Rudi«, sagte sie dann, sich an den Kaufmann wendend, »so hilf mir doch, du siehst, ich werde verdдchtigt, laЯ die Kerze.« Man hдtte denken kцnnen, er hдtte nicht achtgegeben, aber er war vollstдndig eingeweiht. »Ich wьЯte auch nicht, warum Sie eifersьchtig sein sollten«, sagte er wenig schlagfertig. »Ich weiЯ es eigentlich auch nicht«, sagte K. und sah den Kaufmann lдchelnd an. Leni lachte laut, benьtzte die Unaufmerksamkeit K.s, um sich in seinen Arm einzuhдngen, und flьsterte: »LaЯ ihn jetzt, du siehst ja, was fьr ein Mensch er ist. Ich habe mich seiner ein wenig angenommen, weil er eine groЯe Kundschaft des Advokaten ist, aus keinem andern Grund. Und du? Willst du noch heute mit dem Advokaten sprechen? Er ist heute sehr krank, aber wenn du willst, melde ich dich doch an. Ьber Nacht bleibst du aber bei mir, ganz gewiЯ. Du warst auch schon so lange nicht bei uns, selbst der Advokat hat nach dir gefragt. Vernachlдssige den ProzeЯ nicht! Auch ich habe dir Verschiedenes mitzuteilen, was ich erfahren habe. Nun aber zieh fьrs erste deinen Mantel aus!« Sie half ihm, sich auszuziehen, nahm ihm den Hut ab, lief mit den Sachen ins Vorzimmer, sie anzuhдngen, lief dann wieder zurьck und sah nach der Suppe. »Soll ich zuerst dich anmelden oder ihm zuerst die Suppe bringen?« »Melde mich zuerst an«, sagte K. Er war дrgerlich, er hatte ursprьnglich beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheit, insbesondere die fragliche Kьndigung genau zu besprechen, die Anwesenheit des Kaufmanns hatte ihm aber die Lust dazu genommen. Jetzt aber hielt er seine Sache doch fьr zu wichtig, als daЯ dieser kleine Kaufmann vielleicht entscheidend eingreifen sollte, und so rief er Leni, die schon auf dem Gang war, wieder zurьck. »Bring ihm doch zuerst die Suppe«, sagte er, »er soll sich fьr die Unterredung mit mir stдrken, er wird es nцtig haben.« »Sie sind auch ein Klient des Advokaten«, sagte, wie zur Feststellung, der Kaufmann leise aus seiner Ecke. Es wurde aber nicht gut aufgenommen. »Was kьmmert Sie denn das?« sagte K., und Leni sagte: »Wirst du still sein. – Dann bringe ich ihm also zuerst die Suppe«, sagte Leni zu K. und goЯ die Suppe auf einen Teller. »Es ist dann nur zu befьrchten, daЯ er bald einschlдft, nach dem Essen schlдft er bald ein.« »Das, was ich ihm sagen werde, wird ihn wacherhalten«, sagte K., er wollte immerfort durchblicken lassen, daЯ er etwas Wichtiges mit dem Advokaten zu verhandeln beabsichtige, er wollte von Leni gefragt werden, was es sei, und dann erst sie um Rat fragen. Aber sie erfьllte pьnktlich bloЯ die ausgesprochenen Befehle. Als sie mit der Tasse an ihm vorьberging, stieЯ sie absichtlich sanft an ihn und flьsterte: »Wenn er die Suppe gegessen hat, melde ich dich gleich an, damit ich dich mцglichst bald wiederbekomme.« »Geh nur«, sagte K., »geh nur.« »Sei doch freundlicher«, sagte sie und drehte sich in der Tьr mit der Tasse nochmals ganz um.
K. sah ihr nach; nun war es endgьltig beschlossen, daЯ der Advokat entlassen wьrde, es war wohl auch besser, daЯ er vorher mit Leni nicht mehr darьber sprechen konnte; sie hatte kaum den genьgenden Ьberblick ьber das Ganze, hдtte gewiЯ abgeraten, hдtte mцglicherweise K. auch wirklich von der Kьndigung diesmal abgehalten, er wдre weiterhin in Zweifel und Unruhe geblieben, und schlieЯlich hдtte er nach einiger Zeit seinen EntschluЯ doch ausgefьhrt, denn dieser EntschluЯ war allzu zwingend. Je frьher er aber ausgefьhrt wurde, desto mehr Schaden wurde abgehalten. Vielleicht wuЯte ьbrigens der Kaufmann etwas darьber zu sagen. K. wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmann, als er sofort aufstehen wollte. »Bleiben Sie sitzen«, sagte K. und zog einen Sessel neben ihn. »Sind Sie schon ein alter Klient des Advokaten?« fragte K. »Ja«, sagte der Kaufmann, »ein sehr alter Klient.« »Wieviel Jahre vertritt er Sie denn schon?« fragte K. »Ich weiЯ nicht, wie Sie es meinen«, sagte der Kaufmann, »in geschдftlichen Rechtsangelegenheiten – ich habe ein Getreidegeschдft – vertritt mich der Advokat schon, seit ich das Geschдft ьbernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen ProzeЯ, auf den Sie wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit Beginn, es ist schon lдnger als fьnf Jahre. Ja, weit ьber fьnf Jahre«, fьgte er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche hervor, »hier habe ich alles aufgeschrieben; wenn Sie wollen, sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer, alles zu behalten. Mein ProzeЯ dauert wahrscheinlich schon viel lдnger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau, und das ist schon lдnger als fьnfeinhalb Jahre.« K. rьckte nдher zu ihm. »Der Advokat ьbernimmt also auch gewцhnliche Rechtssachen?« fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend. »GewiЯ«, sagte der Kaufmann und flьsterte dann K. zu: »Man sagt sogar, daЯ er in diesen Rechtssachen tьchtiger ist als in den anderen.« Aber dann schien er das Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich bitte Sie sehr, verraten Sie mich nicht.« K. klopfte ihm zur Beruhigung auf den Schenkel und sagte: »Nein, ich bin kein Verrдter.« »Er ist nдmlich rachsьchtig«, sagte der Kaufmann. »Gegen einen so treuen Klienten wird er gewiЯ nichts tun«, sagte K. »O doch«, sagte der Kaufmann, »wenn er aufgeregt ist, kennt er keine Unterschiede, ьbrigens bin ich ihm nicht eigentlich treu.« »Wieso denn nicht?« fragte K. »Soll ich es Ihnen anvertrauen?« fragte der Kaufmann zweifelnd. »Ich denke, Sie dьrfen es«, sagte K. »Nun«, sagte der Kaufmann, »ich werde es Ihnen zum Teil anvertrauen, Sie mьssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns gegenьber dem Advokaten gegenseitig festhalten.« »Sie sind sehr vorsichtig«, sagte K., »aber ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie vollstдndig beruhigen wird. Worin besteht also Ihre Untreue gegenьber dem Advokaten?« »Ich habe«, sagte der Kaufmann zцgernd und in einem Ton, als gestehe er etwas Unehrenhaftes ein, »ich habe auЯer ihm noch andere Advokaten.« »Das ist doch nichts so Schlimmes«, sagte K., ein wenig enttдuscht. »Hier ja«, sagte der Kaufmann, der noch seit seinem Gestдndnis schwer atmete, infolge K.s Bemerkung aber mehr Vertrauen faЯte. »Es ist nicht erlaubt. Und am allerwenigsten ist es erlaubt, neben einem sogenannten Advokaten auch noch Winkeladvokaten zu nehmen. Und gerade das habe ich getan, ich habe auЯer ihm noch fьnf Winkeladvokaten.« »Fьnf!« rief K., erst die Zahl setzte ihn in Erstaunen, »fьnf Advokaten auЯer diesem?« Der Kaufmann nickte: »Ich verhandle gerade noch mit einem sechsten.« »Aber wozu brauchen Sie denn soviel Advokaten?« fragte K. »Ich brauche alle«, sagte der Kaufmann. »Wollen Sie mir das nicht erklдren?« fragte K. »Gern«, sagte der Kaufmann. »Vor allem will ich doch meinen ProzeЯ nicht verlieren, das ist doch selbstverstдndlich. Infolgedessen darf ich nichts, was mir nьtzen kцnnte, auЯer acht lassen; selbst wenn die Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmten Falle nur ganz gering ist, darf ich sie auch nicht verwerfen. Ich habe deshalb alles, was ich besitze, auf den ProzeЯ verwendet. So habe ich zum Beispiel alles Geld meinem Geschдft entzogen, frьher fьllten die Bьrorдume meines Geschдfts fast ein Stockwerk, heute genьgt eine kleine Kammer im Hinterhaus, wo ich mit einem Lehrjungen arbeite. Diesen Rьckgang hat natьrlich nicht nur die Entziehung des Geldes verschuldet, sondern mehr noch die Entziehung meiner Arbeitskraft. Wenn man fьr seinen ProzeЯ etwas tun will, kann man sich mit anderem nur wenig befassen.« »Sie arbeiten also auch selbst bei Gericht?« fragte K. »Gerade darьber mцchte ich gern etwas erfahren.« »Darьber kann ich nur wenig berichten«, sagte der Kaufmann, »anfangs habe ich es wohl auch versucht, aber ich habe bald wieder davon abgelassen. Es ist zu erschцpfend und bringt nicht viel Erfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu unterhandeln, hat sich wenigstens fьr mich als ganz unmцglich erwiesen. Es ist ja dort schon das bloЯe Sitzen und Warten eine groЯe Anstrengung. Sie kennen ja selbst die schwere Luft in den Kanzleien.« »Wieso wissen Sie denn, daЯ ich dort war?« fragte K. »Ich war gerade im Wartezimmer, als Sie durchgingen.« »Was fьr ein Zufall das ist!« rief K., ganz hingenommen und die frьhere Lдcherlichkeit des Kaufmanns ganz vergessend. »Sie haben mich also gesehen! Sie waren im Wartezimmer, als ich durchging. Ja, ich bin dort einmal durchgegangen.« »Es ist kein so groЯer Zufall«, sagte der Kaufmann, »ich bin dort fast jeden Tag.« »Ich werde nun wahrscheinlich auch цfters hingehen mьssen«, sagte K., »nur werde ich wohl kaum mehr so ehrenvoll aufgenommen werden wie damals. Alle standen auf. Man dachte wohl, ich sei ein Richter.« »Nein«, sagte der Kaufmann, »wir grьЯten damals den Gerichtsdiener. DaЯ Sie ein Angeklagter sind, das wuЯten wir. Solche Nachrichten verbreiten sich sehr rasch.« »Das wuЯten Sie also schon«, sagte K., »dann erschien Ihnen aber mein Benehmen vielleicht hochmьtig. Sprach man sich nicht darьber aus?« »Nein«, sagte der Kaufmann, »im Gegenteil. Aber das sind Dummheiten.« »Was fьr Dummheiten denn?« fragte K. »Warum fragen Sie danach?« sagte der Kaufmann дrgerlich. »Sie scheinen die Leute dort noch nicht zu kennen und werden es vielleicht unrichtig auffassen. Sie mьssen bedenken, daЯ in diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache kommen, fьr die der Verstand nicht mehr ausreicht, man ist einfach zu mьde und abgelenkt fьr vieles, und zum Ersatz verlegt man sich auf den Aberglauben. Ich rede von den anderen, bin aber selbst gar nicht besser. Ein solcher Aberglaube ist es zum Beispiel, daЯ viele aus dem Gesicht des Angeklagten, insbesondere aus der Zeichnung der Lippen, den Ausgang des Prozesses erkennen wollen. Diese Leute also haben behauptet, Sie wьrden, nach Ihren Lippen zu schlieЯen, gewiЯ und bald verurteilt werden. Ich wiederhole, es ist ein lдcherlicher Aberglaube und in den meisten Fдllen durch die Tatsachen auch vollstдndig widerlegt, aber wenn man in jener Gesellschaft lebt, ist es schwer, sich solchen Meinungen zu entziehen. Denken Sie nur, wie stark dieser Aberglaube wirken kann. Sie haben doch einen dort angesprochen, nicht? Er konnte Ihnen aber kaum antworten. Es gibt natьrlich viele Grьnde, um dort verwirrt zu sein, aber einer davon war auch der Anblick Ihrer Lippen. Er hat spдter erzдhlt, er hдtte auf Ihren Lippen auch das Zeichen seiner eigenen Verurteilung zu sehen geglaubt.« »Meine Lippen?« fragte K., zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. »Ich kann an meinen Lippen nichts Besonderes erkennen. Und Sie?« »Ich auch nicht«, sagte der Kaufmann, »ganz und gar nicht.« »Wie aberglдubisch diese Leute sind!« rief K. aus. »Sagte ich es nicht?« fragte der Kaufmann. »Verkehren sie denn soviel untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?« sagte K. »Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten.« »Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander«, sagte der Kaufmann, »das wдre nicht mцglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam lдЯt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird fьr sich untersucht, es ist ja das sorgfдltigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die anderen; keiner weiЯ, wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenig besprochen. Die aberglдubischen Meinungen bestehen schon seit alters her und vermehren sich fцrmlich von selbst.« »Ich sah die Herren dort im Wartezimmer«, sagte K., »ihr Warten kam mir so nutzlos vor.« »Das Warten ist nicht nutzlos«, sagte der Kaufmann, »nutzlos ist nur das selbstдndige Eingreifen. Ich sagte schon, daЯ ich jetzt auЯer diesem noch fьnf Advokaten habe. Man sollte doch glauben – ich selbst glaubte es zuerst –, jetzt kцnnte ich ihnen die Sache vollstдndig ьberlassen. Das wдre aber ganz falsch. Ich kann sie ihnen weniger ьberlassen, als wenn ich nur einen hдtte. Sie verstehen das wohl nicht?« »Nein«, sagte K. und legte, um den Kaufmann an seinem allzu schnellen Reden zu hindern, die Hand beruhigend auf seine Hand, »ich mцchte Sie nur bitten, ein wenig langsamer zu reden, es sind doch lauter fьr mich sehr wichtige Dinge, und ich kann Ihnen nicht recht folgen.« »Gut, daЯ Sie mich daran erinnern«, sagte der Kaufmann, »Sie sind ja ein Neuer, ein Junger. Ihr ProzeЯ ist ein halbes Jahr alt, nicht wahr? Ja, ich habe davon gehцrt. Ein so junger ProzeЯ! Ich aber habe diese Dinge schon unzдhligemal durchgedacht, sie sind mir das Selbstverstдndlichste auf der Welt.« »Sie sind wohl froh, daЯ Ihr ProzeЯ schon so weit fortgeschritten ist?« fragte K., er wollte nicht geradezu fragen, wie die Angelegenheiten des Kaufmanns stьnden. Er bekam aber auch keine deutliche Antwort. »Ja, ich habe meinen ProzeЯ fьnf Jahre lang fortgewдlzt«, sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, »es ist keine kleine Leistung.« Dann schwieg er ein Weilchen. K. horchte, ob Leni nicht schon komme. Einerseits wollte er nicht, daЯ sie komme, denn er hatte noch vieles zu fragen und wollte auch nicht von Leni in diesem vertraulichen Gesprдch mit dem Kaufmann angetroffen werden, andererseits aber дrgerte er sich darьber, daЯ sie trotz seiner Anwesenheit so lange beim Advokaten blieb, viel lдnger, als zum Reichen der Suppe nцtig war. »Ich erinnere mich noch an die Zeit genau«, begann der Kaufmann wieder, und K. war gleich voll Aufmerksamkeit, »als mein ProzeЯ etwa so alt war wie jetzt Ihr ProzeЯ. Ich hatte damals nur diesen Advokaten, war aber nicht sehr mit ihm zufrieden.« Hier erfahre ich ja alles, dachte K. und nickte lebhaft mit dem Kopf, als kцnne er dadurch den Kaufmann aufmuntern, alles Wissenswerte zu sagen. »Mein ProzeЯ«, fuhr der Kaufmann fort, »kam nicht vorwдrts, es fanden zwar Untersuchungen statt, ich kam auch zu jeder, sammelte Material, erlegte alle meine Geschдftsbьcher bei Gericht, was, wie ich spдter erfuhr, nicht einmal nцtig war, ich lief immer wieder zum Advokaten, er brachte auch verschiedene Eingaben ein –.« »Verschiedene Eingaben?« fragte K. »Ja, gewiЯ«, sagte der Kaufmann. »Das ist mir sehr wichtig«, sagte K., »in meinem Fall arbeitet er noch immer an der ersten Eingabe. Er hat noch nichts getan. Ich sehe jetzt, er vernachlдssigt mich schдndlich.« »DaЯ die Eingabe noch nicht fertig ist, kann verschiedene berechtigte Grьnde haben«, sagte der Kaufmann. »Ьbrigens hatte es sich bei meinen Eingaben spдter gezeigt, daЯ sie ganz wertlos waren. Ich habe sogar eine durch das Entgegenkommen eines Gerichtsbeamten selbst gelesen. Sie war zwar gelehrt, aber eigentlich inhaltlos. Vor allem sehr viel Latein, das ich nicht verstehe, dann seitenlange allgemeine Anrufungen des Gerichtes, dann Schmeicheleien fьr einzelne bestimmte Beamte, die zwar nicht genannt waren, die aber ein Eingeweihter jedenfalls erraten muЯte, dann Selbstlob des Advokaten, wobei er sich auf geradezu hьndische Weise vor dem Gericht demьtigte, und endlich Untersuchungen von Rechtsfдllen aus alter Zeit, die dem meinigen дhnlich sein sollten. Diese Untersuchungen waren allerdings, soweit ich ihnen folgen konnte, sehr sorgfдltig gemacht. Ich will auch mit diesem allen kein Urteil ьber die Arbeit des Advokaten abgeben, auch war die Eingabe, die ich gelesen habe, nur eine unter mehreren, jedenfalls aber, und davon will ich jetzt sprechen, konnte ich damals in meinem ProzeЯ keinen Fortschritt sehen.« »Was fьr einen Fortschritt wollten Sie denn sehen?« fragte K. »Sie fragen ganz vernьnftig«, sagte der Kaufmann lдchelnd, »man kann in diesem Verfahren nur selten Fortschritte sehen. Aber damals wuЯte ich das nicht. Ich bin Kaufmann und war es damals noch viel mehr als heute, ich wollte greifbare Fortschritte haben, das Ganze sollte sich zum Ende neigen oder wenigstens den regelrechten Aufstieg nehmen. Statt dessen gab es nur Einvernehmungen, die meist den gleichen Inhalt hatten; die Antworten hatte ich schon bereit wie eine Litanei; mehrmals in der Woche kamen Gerichtsboten in mein Geschдft, in meine Wohnung oder wo sie mich sonst antreffen konnten; das war natьrlich stцrend (heute ist es wenigstens in dieser Hinsicht viel besser, der telephonische Anruf stцrt viel weniger), auch unter meinen Geschдftsfreunden, insbesondere aber unter meinen Verwandten, fingen Gerьchte von meinem ProzeЯ sich zu verbreiten an, Schдdigungen gab es also von allen Seiten, aber nicht das geringste Anzeichen sprach dafьr, daЯ auch nur die erste Gerichtsverhandlung in der nдchsten Zeit stattfinden wьrde. Ich ging also zum Advokaten und beklagte mich. Er gab mir zwar lange Erklдrungen, lehnte es aber entschieden ab, etwas in meinem Sinne zu tun, niemand habe EinfluЯ auf die Festsetzung der Verhandlung, in einer Eingabe darauf zu dringen – wie ich es verlangte –, sei einfach unerhцrt und wьrde mich und ihn verderben. Ich dachte: Was dieser Advokat nicht will oder kann, wird ein anderer wollen und kцnnen. Ich sah mich also nach anderen Advokaten um. Ich will es gleich vorwegnehmen: keiner hat die Festsetzung der Hauptverhandlung verlangt oder durchgesetzt, es ist, allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen werde, wirklich unmцglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich also dieser Advokat nicht getдuscht; im ьbrigen aber hatte ich es nicht zu bedauern, mich noch an andere Advokaten gewendet zu haben. Sie dьrften wohl von Dr. Huld auch schon manches ьber die Winkeladvokaten gehцrt haben, er hat sie Ihnen wahrscheinlich als sehr verдchtlich dargestellt, und das sind sie wirklich. Allerdings unterlдuft ihm immer, wenn er von ihnen spricht und sich und seine Kollegen zu ihnen in Vergleich setzt, ein kleiner Fehler, auf den ich Sie ganz nebenbei auch aufmerksam machen will. Er nennt dann immer die Advokaten seines Kreises zur Unterscheidung die ›groЯen Advokaten‹. Das ist falsch, es kann sich natьrlich jeder ›groЯ‹ nennen, wenn es ihm beliebt, in diesem Fall aber entscheidet doch nur der Gerichtsgebrauch. Nach diesem gibt es nдmlich auЯer den Winkeladvokaten noch kleine und groЯe Advokaten. Dieser Advokat und seine Kollegen sind jedoch nur die kleinen Advokaten, die groЯen Advokaten aber, von denen ich nur gehцrt und die ich nie gesehen habe, stehen im Rang unvergleichlich hцher ьber den kleinen Advokaten als diese ьber den verachteten Winkeladvokaten.« »Die groЯen Advokaten?« fragte K. »Wer sind denn die? Wie kommt man zu ihnen?« »Sie haben also noch nie von ihnen gehцrt«, sagte der Kaufmann. »Es gibt kaum einen Angeklagten, der nicht, nachdem er von ihnen erfahren hat, eine Zeitlang von ihnen trдumen wьrde.
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Achtes Kapitel Kaufmann Block, Kьndigung des Advokaten
Endlich hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine Vertretung zu entziehen. Zweifel daran, ob es richtig war, so zu handeln, waren zwar nicht auszurotten, aber die Ьberzeugung von der Notwendigkeit dessen ьberwog. Die EntschlieЯung hatte K. an dem Tage, an dem er zum Advokaten gehen wollte, viel Arbeitskraft entzogen, er arbeitete besonders langsam, er muЯte sehr lange im Bьro bleiben, und es war schon zehn Uhr vorьber, als er endlich vor der Tьr des Advokaten stand. Noch ehe er lдutete, ьberlegte er, ob es nicht besser wдre, dem Advokaten telephonisch oder brieflich zu kьndigen, die persцnliche Unterredung wьrde gewiЯ sehr peinlich werden. Trotzdem wollte K. schlieЯlich auf sie nicht verzichten, bei jeder anderen Art der Kьndigung wьrde diese stillschweigend oder mit ein paar fцrmlichen Worten angenommen werden, und K. wьrde, wenn nicht etwa Leni einiges erforschen kцnnte, niemals erfahren, wie der Advokat die Kьndigung aufgenommen hatte und was fьr Folgen fьr K. diese Kьndigung nach der nicht unwichtigen Meinung des Advokaten haben kцnnte. SaЯ aber der Advokat K. gegenьber und wurde er von der Kьndigung ьberrascht, so wьrde K., selbst wenn der Advokat sich nicht viel entlocken lieЯ, aus seinem Gesicht und seinem Benehmen alles, was er wollte, leicht entnehmen kцnnen. Es war sogar nicht ausgeschlossen, daЯ er ьberzeugt wurde, daЯ es doch gut wдre, dem Advokaten die Verteidigung zu ьberlassen und daЯ er dann seine Kьndigung zurьckzog.
Das erste Lдuten an der Tьr des Advokaten war, wie gewцhnlich, zwecklos. »Leni kцnnte flinker sein«, dachte K. Aber es war schon ein Vorteil, wenn sich nicht die andere Partei einmischte, wie sie es gewцhnlich tat, sei es, daЯ der Mann im Schlafrock oder sonst jemand zu belдstigen anfing. Wдhrend K. zum zweitenmal den Knopf drьckte, sah er nach der anderen Tьr zurьck, diesmal aber blieb auch sie geschlossen. Endlich erschienen an dem Guckfenster der Tьr des Advokaten zwei Augen, es waren aber nicht Lenis Augen. Jemand schloЯ die Tьr auf, stemmte sich aber vorlдufig noch gegen sie, rief in die Wohnung zurьck: »Er ist es!« und цffnete erst dann vollstдndig. K. hatte gegen die Tьr gedrдngt, denn schon hцrte er, wie hinter ihm in der Tьr der anderen Wohnung der Schlьssel hastig im SchloЯ gedreht wurde. Als sich daher die Tьr vor ihm endlich цffnete, stьrmte er geradezu ins Vorzimmer und sah noch, wie durch den Gang, der zwischen den Zimmern hindurchfьhrte, Leni, welcher der Warnungsruf des Tьrцffners gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte ihr ein Weilchen nach und sah sich dann nach dem Tьrцffner um. Es war ein kleiner, dьrrer Mann mit Vollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. »Sie sind hier angestellt?« fragte K. »Nein«, antwortete der Mann, »ich bin hier fremd, der Advokat ist nur mein Vertreter, ich bin hier wegen einer Rechtsangelegenheit.« »ohne Rock?« fragte K. und zeigte mit einer Handbewegung auf die mangelhafte Bekleidung des Mannes. »Ach, verzeihen Sie!« sagte der Mann und beleuchtete sich selbst mit der Kerze, als sдhe er selbst zum erstenmal seinen Zustand. »Leni ist Ihre Geliebte?« fragte K. kurz. Er hatte die Beine ein wenig gespreizt, die Hдnde, in denen er den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch den Besitz eines starken Ьberrocks fьhlte er sich dem mageren Kleinen sehr ьberlegen. »O Gott«, sagte der und hob die eine Hand in erschrockener Abwehr vor das Gesicht, »nein, nein, was denken Sie denn?« »Sie sehen glaubwьrdig aus«, sagte K. lдchelnd, »trotzdem – kommen Sie.« Er winkte ihm mit dem Hut und lieЯ ihn vor sich gehen. »Wie heiЯen Sie denn?« fragte K. auf dem Weg. »Block, Kaufmann Block«, sagte der Kleine und drehte sich bei dieser Vorstellung nach K. um, stehenbleiben lieЯ ihn aber K. nicht. »Ist das Ihr wirklicher Name?« fragte K. »GewiЯ«, war die Antwort, »warum haben Sie denn Zweifel?« »Ich dachte, Sie kцnnten Grund haben, Ihren Namen zu verschweigen«, sagte K. Er fьhlte sich so frei, wie man es sonst nur ist, wenn man in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles, was einen selbst betrifft, bei sich behдlt, nur gleichmьtig von den Interessen der anderen redet, sie dadurch vor sich selbst erhцht, aber auch nach Belieben fallen lassen kann. Bei der Tьr des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K. stehen, цffnete sie und rief dem Kaufmann, der folgsam weitergegangen war, zu: »Nicht so eilig! Leuchten Sie hier!« K. dachte, Leni kцnnte sich hier versteckt haben, er lieЯ den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber das Zimmer war leer. Vor dem Bild des Richters hielt K. den Kaufmann hinten an den Hosentrдgern zurьck. »Kennen Sie den?« fragte er und zeigte mit dem Zeigefinger in die Hцhe. Der Kaufmann hob die Kerze, sah blinzelnd hinauf und sagte: »Es ist ein Richter.« »Ein hoher Richter?« fragte K. und stellte sich seitlich vor den Kaufmann, um den Eindruck, den das Bild auf ihn machte, zu beobachten. Der Kaufmann sah bewundernd aufwдrts. »Es ist ein hoher Richter«, sagte er. »Sie haben keinen groЯen Einblick«, sagte K. »Unter den niedrigen Untersuchungsrichtern ist er der niedrigste.« »Nun erinnere ich mich«, sagte der Kaufmann und senkte die Kerze, »ich habe es auch schon gehцrt.« »Aber natьrlich«, rief K., »ich vergaЯ ja, natьrlich mьssen Sie es schon gehцrt haben.« »Aber warum denn, warum denn?« fragte der Kaufmann, wдhrend er sich, von K. mit den Hдnden angetrieben, zur Tьr fortbewegte. DrauЯen auf dem Gang sagte K.: »Sie wissen doch, wo sich Leni versteckt hat?« »Versteckt?« sagte der Kaufmann, »nein, sie dьrfte aber in der Kьche sein und dem Advokaten eine Suppe kochen.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« fragte K. »Ich wollte Sie ja hinfьhren, Sie haben mich aber wieder zurьckgerufen«, antwortete der Kaufmann, wie verwirrt durch die widersprechenden Befehle. »Sie glauben wohl sehr schlau zu sein«, sagte K., »fьhren Sie mich also!« In der Kьche war K. noch nie gewesen, sie war ьberraschend groЯ und reich ausgestattet. Allein der Herd war dreimal so groЯ wie gewцhnliche Herde, von dem ьbrigen sah man keine Einzelheiten, denn die Kьche wurde jetzt nur von einer kleinen Lampe beleuchtet, die beim Eingang hing. Am Herd stand Leni in weiЯer Schьrze, wie immer, und leerte Eier in einen Topf aus, der auf einem Spiritusfeuer stand. »Guten Abend, Josef«, sagte sie mit einem Seitenblick. »Guten Abend«, sagte K. und zeigte mit einer Hand auf einen abseits stehenden Sessel, auf den sich der Kaufmann setzen sollte, was dieser auch tat. K. aber ging ganz nahe hinter Leni, beugte sich ьber ihre Schulter und fragte: »Wer ist der Mann?« Leni umfaЯte K. mit einer Hand, die andere quirlte die Suppe, zog ihn nach vorn zu sich und sagte: »Es ist ein bedauernswerter Mensch, ein armer Kaufmann, ein gewisser Block. Sieh ihn nur an.« Sie blickten beide zurьck. Der Kaufmann saЯ auf dem Sessel, auf den ihn K. gewiesen hatte, er hatte die Kerze, deren Licht jetzt unnцtig war, ausgepustet und drьckte mit den Fingern den Docht, um den Rauch zu verhindern. »Du warst im Hemd«, sagte K. und wendete ihren Kopf mit der Hand wieder dem Herd zu. Sie schwieg. »Er ist dein Geliebter?« fragte K. Sie wollte nach dem Suppentopf greifen, aber K. nahm ihre beiden Hдnde und sagte: »Nun antworte!« Sie sagte: »Komm ins Arbeitszimmer, ich werde dir alles erklдren.« »Nein«, sagte K., »ich will, daЯ du es hier erklдrst.« Sie hing sich an ihn und wollte ihn kьssen. K. wehrte sie aber ab und sagte: »Ich will nicht, daЯ du mich jetzt kьЯt.« »Josef«, sagte Leni und sah K. bittend und doch offen in die Augen, »du wirst doch nicht auf Herrn Block eifersьchtig sein. – Rudi«, sagte sie dann, sich an den Kaufmann wendend, »so hilf mir doch, du siehst, ich werde verdдchtigt, laЯ die Kerze.« Man hдtte denken kцnnen, er hдtte nicht achtgegeben, aber er war vollstдndig eingeweiht. »Ich wьЯte auch nicht, warum Sie eifersьchtig sein sollten«, sagte er wenig schlagfertig. »Ich weiЯ es eigentlich auch nicht«, sagte K. und sah den Kaufmann lдchelnd an. Leni lachte laut, benьtzte die Unaufmerksamkeit K.s, um sich in seinen Arm einzuhдngen, und flьsterte: »LaЯ ihn jetzt, du siehst ja, was fьr ein Mensch er ist. Ich habe mich seiner ein wenig angenommen, weil er eine groЯe Kundschaft des Advokaten ist, aus keinem andern Grund. Und du? Willst du noch heute mit dem Advokaten sprechen? Er ist heute sehr krank, aber wenn du willst, melde ich dich doch an. Ьber Nacht bleibst du aber bei mir, ganz gewiЯ. Du warst auch schon so lange nicht bei uns, selbst der Advokat hat nach dir gefragt. Vernachlдssige den ProzeЯ nicht! Auch ich habe dir Verschiedenes mitzuteilen, was ich erfahren habe. Nun aber zieh fьrs erste deinen Mantel aus!« Sie half ihm, sich auszuziehen, nahm ihm den Hut ab, lief mit den Sachen ins Vorzimmer, sie anzuhдngen, lief dann wieder zurьck und sah nach der Suppe. »Soll ich zuerst dich anmelden oder ihm zuerst die Suppe bringen?« »Melde mich zuerst an«, sagte K. Er war дrgerlich, er hatte ursprьnglich beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheit, insbesondere die fragliche Kьndigung genau zu besprechen, die Anwesenheit des Kaufmanns hatte ihm aber die Lust dazu genommen. Jetzt aber hielt er seine Sache doch fьr zu wichtig, als daЯ dieser kleine Kaufmann vielleicht entscheidend eingreifen sollte, und so rief er Leni, die schon auf dem Gang war, wieder zurьck. »Bring ihm doch zuerst die Suppe«, sagte er, »er soll sich fьr die Unterredung mit mir stдrken, er wird es nцtig haben.« »Sie sind auch ein Klient des Advokaten«, sagte, wie zur Feststellung, der Kaufmann leise aus seiner Ecke. Es wurde aber nicht gut aufgenommen. »Was kьmmert Sie denn das?« sagte K., und Leni sagte: »Wirst du still sein. – Dann bringe ich ihm also zuerst die Suppe«, sagte Leni zu K. und goЯ die Suppe auf einen Teller. »Es ist dann nur zu befьrchten, daЯ er bald einschlдft, nach dem Essen schlдft er bald ein.« »Das, was ich ihm sagen werde, wird ihn wacherhalten«, sagte K., er wollte immerfort durchblicken lassen, daЯ er etwas Wichtiges mit dem Advokaten zu verhandeln beabsichtige, er wollte von Leni gefragt werden, was es sei, und dann erst sie um Rat fragen. Aber sie erfьllte pьnktlich bloЯ die ausgesprochenen Befehle. Als sie mit der Tasse an ihm vorьberging, stieЯ sie absichtlich sanft an ihn und flьsterte: »Wenn er die Suppe gegessen hat, melde ich dich gleich an, damit ich dich mцglichst bald wiederbekomme.« »Geh nur«, sagte K., »geh nur.« »Sei doch freundlicher«, sagte sie und drehte sich in der Tьr mit der Tasse nochmals ganz um.
K. sah ihr nach; nun war es endgьltig beschlossen, daЯ der Advokat entlassen wьrde, es war wohl auch besser, daЯ er vorher mit Leni nicht mehr darьber sprechen konnte; sie hatte kaum den genьgenden Ьberblick ьber das Ganze, hдtte gewiЯ abgeraten, hдtte mцglicherweise K. auch wirklich von der Kьndigung diesmal abgehalten, er wдre weiterhin in Zweifel und Unruhe geblieben, und schlieЯlich hдtte er nach einiger Zeit seinen EntschluЯ doch ausgefьhrt, denn dieser EntschluЯ war allzu zwingend. Je frьher er aber ausgefьhrt wurde, desto mehr Schaden wurde abgehalten. Vielleicht wuЯte ьbrigens der Kaufmann etwas darьber zu sagen. K. wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmann, als er sofort aufstehen wollte. »Bleiben Sie sitzen«, sagte K. und zog einen Sessel neben ihn. »Sind Sie schon ein alter Klient des Advokaten?« fragte K. »Ja«, sagte der Kaufmann, »ein sehr alter Klient.« »Wieviel Jahre vertritt er Sie denn schon?« fragte K. »Ich weiЯ nicht, wie Sie es meinen«, sagte der Kaufmann, »in geschдftlichen Rechtsangelegenheiten – ich habe ein Getreidegeschдft – vertritt mich der Advokat schon, seit ich das Geschдft ьbernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen ProzeЯ, auf den Sie wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit Beginn, es ist schon lдnger als fьnf Jahre. Ja, weit ьber fьnf Jahre«, fьgte er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche hervor, »hier habe ich alles aufgeschrieben; wenn Sie wollen, sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer, alles zu behalten. Mein ProzeЯ dauert wahrscheinlich schon viel lдnger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau, und das ist schon lдnger als fьnfeinhalb Jahre.« K. rьckte nдher zu ihm. »Der Advokat ьbernimmt also auch gewцhnliche Rechtssachen?« fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend. »GewiЯ«, sagte der Kaufmann und flьsterte dann K. zu: »Man sagt sogar, daЯ er in diesen Rechtssachen tьchtiger ist als in den anderen.« Aber dann schien er das Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf die Schulter und sagte: »Ich bitte Sie sehr, verraten Sie mich nicht.« K. klopfte ihm zur Beruhigung auf den Schenkel und sagte: »Nein, ich bin kein Verrдter.« »Er ist nдmlich rachsьchtig«, sagte der Kaufmann. »Gegen einen so treuen Klienten wird er gewiЯ nichts tun«, sagte K. »O doch«, sagte der Kaufmann, »wenn er aufgeregt ist, kennt er keine Unterschiede, ьbrigens bin ich ihm nicht eigentlich treu.« »Wieso denn nicht?« fragte K. »Soll ich es Ihnen anvertrauen?« fragte der Kaufmann zweifelnd. »Ich denke, Sie dьrfen es«, sagte K. »Nun«, sagte der Kaufmann, »ich werde es Ihnen zum Teil anvertrauen, Sie mьssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns gegenьber dem Advokaten gegenseitig festhalten.« »Sie sind sehr vorsichtig«, sagte K., »aber ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie vollstдndig beruhigen wird. Worin besteht also Ihre Untreue gegenьber dem Advokaten?« »Ich habe«, sagte der Kaufmann zцgernd und in einem Ton, als gestehe er etwas Unehrenhaftes ein, »ich habe auЯer ihm noch andere Advokaten.« »Das ist doch nichts so Schlimmes«, sagte K., ein wenig enttдuscht. »Hier ja«, sagte der Kaufmann, der noch seit seinem Gestдndnis schwer atmete, infolge K.s Bemerkung aber mehr Vertrauen faЯte. »Es ist nicht erlaubt. Und am allerwenigsten ist es erlaubt, neben einem sogenannten Advokaten auch noch Winkeladvokaten zu nehmen. Und gerade das habe ich getan, ich habe auЯer ihm noch fьnf Winkeladvokaten.« »Fьnf!« rief K., erst die Zahl setzte ihn in Erstaunen, »fьnf Advokaten auЯer diesem?« Der Kaufmann nickte: »Ich verhandle gerade noch mit einem sechsten.« »Aber wozu brauchen Sie denn soviel Advokaten?« fragte K. »Ich brauche alle«, sagte der Kaufmann. »Wollen Sie mir das nicht erklдren?« fragte K. »Gern«, sagte der Kaufmann. »Vor allem will ich doch meinen ProzeЯ nicht verlieren, das ist doch selbstverstдndlich. Infolgedessen darf ich nichts, was mir nьtzen kцnnte, auЯer acht lassen; selbst wenn die Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmten Falle nur ganz gering ist, darf ich sie auch nicht verwerfen. Ich habe deshalb alles, was ich besitze, auf den ProzeЯ verwendet. So habe ich zum Beispiel alles Geld meinem Geschдft entzogen, frьher fьllten die Bьrorдume meines Geschдfts fast ein Stockwerk, heute genьgt eine kleine Kammer im Hinterhaus, wo ich mit einem Lehrjungen arbeite. Diesen Rьckgang hat natьrlich nicht nur die Entziehung des Geldes verschuldet, sondern mehr noch die Entziehung meiner Arbeitskraft. Wenn man fьr seinen ProzeЯ etwas tun will, kann man sich mit anderem nur wenig befassen.« »Sie arbeiten also auch selbst bei Gericht?« fragte K. »Gerade darьber mцchte ich gern etwas erfahren.« »Darьber kann ich nur wenig berichten«, sagte der Kaufmann, »anfangs habe ich es wohl auch versucht, aber ich habe bald wieder davon abgelassen. Es ist zu erschцpfend und bringt nicht viel Erfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu unterhandeln, hat sich wenigstens fьr mich als ganz unmцglich erwiesen. Es ist ja dort schon das bloЯe Sitzen und Warten eine groЯe Anstrengung. Sie kennen ja selbst die schwere Luft in den Kanzleien.« »Wieso wissen Sie denn, daЯ ich dort war?« fragte K. »Ich war gerade im Wartezimmer, als Sie durchgingen.« »Was fьr ein Zufall das ist!« rief K., ganz hingenommen und die frьhere Lдcherlichkeit des Kaufmanns ganz vergessend. »Sie haben mich also gesehen! Sie waren im Wartezimmer, als ich durchging. Ja, ich bin dort einmal durchgegangen.« »Es ist kein so groЯer Zufall«, sagte der Kaufmann, »ich bin dort fast jeden Tag.« »Ich werde nun wahrscheinlich auch цfters hingehen mьssen«, sagte K., »nur werde ich wohl kaum mehr so ehrenvoll aufgenommen werden wie damals. Alle standen auf. Man dachte wohl, ich sei ein Richter.« »Nein«, sagte der Kaufmann, »wir grьЯten damals den Gerichtsdiener. DaЯ Sie ein Angeklagter sind, das wuЯten wir. Solche Nachrichten verbreiten sich sehr rasch.« »Das wuЯten Sie also schon«, sagte K., »dann erschien Ihnen aber mein Benehmen vielleicht hochmьtig. Sprach man sich nicht darьber aus?« »Nein«, sagte der Kaufmann, »im Gegenteil. Aber das sind Dummheiten.« »Was fьr Dummheiten denn?« fragte K. »Warum fragen Sie danach?« sagte der Kaufmann дrgerlich. »Sie scheinen die Leute dort noch nicht zu kennen und werden es vielleicht unrichtig auffassen. Sie mьssen bedenken, daЯ in diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache kommen, fьr die der Verstand nicht mehr ausreicht, man ist einfach zu mьde und abgelenkt fьr vieles, und zum Ersatz verlegt man sich auf den Aberglauben. Ich rede von den anderen, bin aber selbst gar nicht besser. Ein solcher Aberglaube ist es zum Beispiel, daЯ viele aus dem Gesicht des Angeklagten, insbesondere aus der Zeichnung der Lippen, den Ausgang des Prozesses erkennen wollen. Diese Leute also haben behauptet, Sie wьrden, nach Ihren Lippen zu schlieЯen, gewiЯ und bald verurteilt werden. Ich wiederhole, es ist ein lдcherlicher Aberglaube und in den meisten Fдllen durch die Tatsachen auch vollstдndig widerlegt, aber wenn man in jener Gesellschaft lebt, ist es schwer, sich solchen Meinungen zu entziehen. Denken Sie nur, wie stark dieser Aberglaube wirken kann. Sie haben doch einen dort angesprochen, nicht? Er konnte Ihnen aber kaum antworten. Es gibt natьrlich viele Grьnde, um dort verwirrt zu sein, aber einer davon war auch der Anblick Ihrer Lippen. Er hat spдter erzдhlt, er hдtte auf Ihren Lippen auch das Zeichen seiner eigenen Verurteilung zu sehen geglaubt.« »Meine Lippen?« fragte K., zog einen Taschenspiegel hervor und sah sich an. »Ich kann an meinen Lippen nichts Besonderes erkennen. Und Sie?« »Ich auch nicht«, sagte der Kaufmann, »ganz und gar nicht.« »Wie aberglдubisch diese Leute sind!« rief K. aus. »Sagte ich es nicht?« fragte der Kaufmann. »Verkehren sie denn soviel untereinander und tauschen sie ihre Meinungen aus?« sagte K. »Ich habe mich bisher ganz abseits gehalten.« »Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander«, sagte der Kaufmann, »das wдre nicht mцglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam lдЯt sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird fьr sich untersucht, es ist ja das sorgfдltigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im geheimen; erst wenn es erreicht ist, erfahren es die anderen; keiner weiЯ, wie es geschehen ist. Es gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern zusammen, aber dort wird wenig besprochen. Die aberglдubischen Meinungen bestehen schon seit alters her und vermehren sich fцrmlich von selbst.« »Ich sah die Herren dort im Wartezimmer«, sagte K., »ihr Warten kam mir so nutzlos vor.« »Das Warten ist nicht nutzlos«, sagte der Kaufmann, »nutzlos ist nur das selbstдndige Eingreifen. Ich sagte schon, daЯ ich jetzt auЯer diesem noch fьnf Advokaten habe. Man sollte doch glauben – ich selbst glaubte es zuerst –, jetzt kцnnte ich ihnen die Sache vollstдndig ьberlassen. Das wдre aber ganz falsch. Ich kann sie ihnen weniger ьberlassen, als wenn ich nur einen hдtte. Sie verstehen das wohl nicht?« »Nein«, sagte K. und legte, um den Kaufmann an seinem allzu schnellen Reden zu hindern, die Hand beruhigend auf seine Hand, »ich mцchte Sie nur bitten, ein wenig langsamer zu reden, es sind doch lauter fьr mich sehr wichtige Dinge, und ich kann Ihnen nicht recht folgen.« »Gut, daЯ Sie mich daran erinnern«, sagte der Kaufmann, »Sie sind ja ein Neuer, ein Junger. Ihr ProzeЯ ist ein halbes Jahr alt, nicht wahr? Ja, ich habe davon gehцrt. Ein so junger ProzeЯ! Ich aber habe diese Dinge schon unzдhligemal durchgedacht, sie sind mir das Selbstverstдndlichste auf der Welt.« »Sie sind wohl froh, daЯ Ihr ProzeЯ schon so weit fortgeschritten ist?« fragte K., er wollte nicht geradezu fragen, wie die Angelegenheiten des Kaufmanns stьnden. Er bekam aber auch keine deutliche Antwort. »Ja, ich habe meinen ProzeЯ fьnf Jahre lang fortgewдlzt«, sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, »es ist keine kleine Leistung.« Dann schwieg er ein Weilchen. K. horchte, ob Leni nicht schon komme. Einerseits wollte er nicht, daЯ sie komme, denn er hatte noch vieles zu fragen und wollte auch nicht von Leni in diesem vertraulichen Gesprдch mit dem Kaufmann angetroffen werden, andererseits aber дrgerte er sich darьber, daЯ sie trotz seiner Anwesenheit so lange beim Advokaten blieb, viel lдnger, als zum Reichen der Suppe nцtig war. »Ich erinnere mich noch an die Zeit genau«, begann der Kaufmann wieder, und K. war gleich voll Aufmerksamkeit, »als mein ProzeЯ etwa so alt war wie jetzt Ihr ProzeЯ. Ich hatte damals nur diesen Advokaten, war aber nicht sehr mit ihm zufrieden.« Hier erfahre ich ja alles, dachte K. und nickte lebhaft mit dem Kopf, als kцnne er dadurch den Kaufmann aufmuntern, alles Wissenswerte zu sagen. »Mein ProzeЯ«, fuhr der Kaufmann fort, »kam nicht vorwдrts, es fanden zwar Untersuchungen statt, ich kam auch zu jeder, sammelte Material, erlegte alle meine Geschдftsbьcher bei Gericht, was, wie ich spдter erfuhr, nicht einmal nцtig war, ich lief immer wieder zum Advokaten, er brachte auch verschiedene Eingaben ein –.« »Verschiedene Eingaben?« fragte K. »Ja, gewiЯ«, sagte der Kaufmann. »Das ist mir sehr wichtig«, sagte K., »in meinem Fall arbeitet er noch immer an der ersten Eingabe. Er hat noch nichts getan. Ich sehe jetzt, er vernachlдssigt mich schдndlich.« »DaЯ die Eingabe noch nicht fertig ist, kann verschiedene berechtigte Grьnde haben«, sagte der Kaufmann. »Ьbrigens hatte es sich bei meinen Eingaben spдter gezeigt, daЯ sie ganz wertlos waren. Ich habe sogar eine durch das Entgegenkommen eines Gerichtsbeamten selbst gelesen. Sie war zwar gelehrt, aber eigentlich inhaltlos. Vor allem sehr viel Latein, das ich nicht verstehe, dann seitenlange allgemeine Anrufungen des Gerichtes, dann Schmeicheleien fьr einzelne bestimmte Beamte, die zwar nicht genannt waren, die aber ein Eingeweihter jedenfalls erraten muЯte, dann Selbstlob des Advokaten, wobei er sich auf geradezu hьndische Weise vor dem Gericht demьtigte, und endlich Untersuchungen von Rechtsfдllen aus alter Zeit, die dem meinigen дhnlich sein sollten. Diese Untersuchungen waren allerdings, soweit ich ihnen folgen konnte, sehr sorgfдltig gemacht. Ich will auch mit diesem allen kein Urteil ьber die Arbeit des Advokaten abgeben, auch war die Eingabe, die ich gelesen habe, nur eine unter mehreren, jedenfalls aber, und davon will ich jetzt sprechen, konnte ich damals in meinem ProzeЯ keinen Fortschritt sehen.« »Was fьr einen Fortschritt wollten Sie denn sehen?« fragte K. »Sie fragen ganz vernьnftig«, sagte der Kaufmann lдchelnd, »man kann in diesem Verfahren nur selten Fortschritte sehen. Aber damals wuЯte ich das nicht. Ich bin Kaufmann und war es damals noch viel mehr als heute, ich wollte greifbare Fortschritte haben, das Ganze sollte sich zum Ende neigen oder wenigstens den regelrechten Aufstieg nehmen. Statt dessen gab es nur Einvernehmungen, die meist den gleichen Inhalt hatten; die Antworten hatte ich schon bereit wie eine Litanei; mehrmals in der Woche kamen Gerichtsboten in mein Geschдft, in meine Wohnung oder wo sie mich sonst antreffen konnten; das war natьrlich stцrend (heute ist es wenigstens in dieser Hinsicht viel besser, der telephonische Anruf stцrt viel weniger), auch unter meinen Geschдftsfreunden, insbesondere aber unter meinen Verwandten, fingen Gerьchte von meinem ProzeЯ sich zu verbreiten an, Schдdigungen gab es also von allen Seiten, aber nicht das geringste Anzeichen sprach dafьr, daЯ auch nur die erste Gerichtsverhandlung in der nдchsten Zeit stattfinden wьrde. Ich ging also zum Advokaten und beklagte mich. Er gab mir zwar lange Erklдrungen, lehnte es aber entschieden ab, etwas in meinem Sinne zu tun, niemand habe EinfluЯ auf die Festsetzung der Verhandlung, in einer Eingabe darauf zu dringen – wie ich es verlangte –, sei einfach unerhцrt und wьrde mich und ihn verderben. Ich dachte: Was dieser Advokat nicht will oder kann, wird ein anderer wollen und kцnnen. Ich sah mich also nach anderen Advokaten um. Ich will es gleich vorwegnehmen: keiner hat die Festsetzung der Hauptverhandlung verlangt oder durchgesetzt, es ist, allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen werde, wirklich unmцglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich also dieser Advokat nicht getдuscht; im ьbrigen aber hatte ich es nicht zu bedauern, mich noch an andere Advokaten gewendet zu haben. Sie dьrften wohl von Dr. Huld auch schon manches ьber die Winkeladvokaten gehцrt haben, er hat sie Ihnen wahrscheinlich als sehr verдchtlich dargestellt, und das sind sie wirklich. Allerdings unterlдuft ihm immer, wenn er von ihnen spricht und sich und seine Kollegen zu ihnen in Vergleich setzt, ein kleiner Fehler, auf den ich Sie ganz nebenbei auch aufmerksam machen will. Er nennt dann immer die Advokaten seines Kreises zur Unterscheidung die ›groЯen Advokaten‹. Das ist falsch, es kann sich natьrlich jeder ›groЯ‹ nennen, wenn es ihm beliebt, in diesem Fall aber entscheidet doch nur der Gerichtsgebrauch. Nach diesem gibt es nдmlich auЯer den Winkeladvokaten noch kleine und groЯe Advokaten. Dieser Advokat und seine Kollegen sind jedoch nur die kleinen Advokaten, die groЯen Advokaten aber, von denen ich nur gehцrt und die ich nie gesehen habe, stehen im Rang unvergleichlich hцher ьber den kleinen Advokaten als diese ьber den verachteten Winkeladvokaten.« »Die groЯen Advokaten?« fragte K. »Wer sind denn die? Wie kommt man zu ihnen?« »Sie haben also noch nie von ihnen gehцrt«, sagte der Kaufmann. »Es gibt kaum einen Angeklagten, der nicht, nachdem er von ihnen erfahren hat, eine Zeitlang von ihnen trдumen wьrde.
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