А-П

П-Я

А  Б  В  Г  Д  Е  Ж  З  И  Й  К  Л  М  Н  О  П  Р  С  Т  У  Ф  Х  Ц  Ч  Ш  Щ  Э  Ю  Я  A-Z

 

›Er arbeite fьr das Gericht‹, sagte er. ›Fьr welches Gericht‹? fragte ich. Und nun erzдhlte er mir von dem Gericht. Sie werden sich wohl am besten vorstellen kцnnen, wie erstaunt ich ьber diese Erzдhlungen war. Seitdem hцre ich bei jedem seiner Besuche irgendwelche Neuigkeiten vom Gericht und bekomme so allmдhlich einen gewissen Einblick in die Sache. Allerdings ist Titorelli geschwдtzig, und ich muЯ ihn oft abwehren, nicht nur, weil er gewiЯ auch lьgt, sondern vor allem, weil ein Geschдftsmann wie ich, der unter den eigenen Geschдftssorgen fast zusammenbricht, sich nicht noch viel um fremde Dinge kьmmern kann. Aber das nur nebenbei. Vielleicht – so dachte ich jetzt – kann Ihnen Titorelli ein wenig behilflich sein, er kennt viele Richter, und wenn er selbst auch keinen groЯen EinfluЯ haben sollte, so kann er Ihnen doch Ratschlдge geben, wie man verschiedenen einfluЯreichen Leuten beikommen kann. Und wenn auch diese Ratschlдge an und fьr sich nicht entscheidend sein sollten, so werden sie doch, meiner Meinung nach, in Ihrem Besitz von groЯer Bedeutung sein. Sie sind ja fast ein Advokat. Ich pflege immer zu sagen: Prokurist K. ist fast ein Advokat. Oh, ich habe keine Sorgen wegen Ihres Prozesses. Wollen Sie nun aber zu Titorelli gehen? Auf meine Empfehlung hin wird er gewiЯ alles tun, was ihm mцglich ist. Ich denke wirklich, Sie sollten hingehen. Es muЯ natьrlich nicht heute sein, einmal, gelegentlich. Allerdings sind Sie – das will ich noch sagen – dadurch, daЯ ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im geringsten verpflichtet, auch wirklich zu Titorelli hinzugehen. Nein, wenn Sie Titorelli entbehren zu kцnnen glauben, ist es gewiЯ besser, ihn ganz beiseite zu lassen. Vielleicht haben Sie schon einen ganz genauen Plan, und Titorelli kцnnte ihn stцren. Nein, dann gehen Sie natьrlich auf keinen Fall hin! Es kostet gewiЯ auch Ьberwindung, sich von einem solchen Burschen Ratschlдge geben zu lassen. Nun, wie Sie wollen. Hier ist das Empfehlungsschreiben und hier die Adresse.«
Enttдuscht nahm K. den Brief und steckte ihn in die Tasche. Selbst im gьnstigsten Falle war der Vorteil, den ihm die Empfehlung bringen konnte, unverhдltnismдЯig kleiner als der Schaden, der darin lag, daЯ der Fabrikant von seinem ProzeЯ wuЯte und daЯ der Maler die Nachricht weiterverbreitete. Er konnte sich kaum dazu zwingen, dem Fabrikanten, der schon auf dem Weg zur Tьr war, mit ein paar Worten zu danken. »Ich werde hingehen«, sagte er, als er sich bei der Tьr vom Fabrikanten verabschiedete, »oder ihm, da ich jetzt sehr beschдftigt bin, schreiben, er mцge einmal zu mir ins Bьro kommen.« »Ich wuЯte ja«, sagte der Fabrikant, »daЯ Sie den besten Ausweg finden wьrden. Allerdings dachte ich, daЯ Sie es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesen Titorelli in die Bank einzuladen, um mit ihm hier ьber den ProzeЯ zu sprechen. Es ist auch nicht immer vorteilhaft, Briefe an solche Leute aus der Hand zu geben. Aber Sie haben gewiЯ alles durchgedacht und wissen, was Sie tun dьrfen.« K. nickte und begleitete den Fabrikanten noch durch das Vorzimmer. Aber trotz дuЯerlicher Ruhe war er ьber sich sehr erschrocken; daЯ er Titorelli schreiben wьrde, hatte er eigentlich nur gesagt, um dem Fabrikanten irgendwie zu zeigen, daЯ er die Empfehlung zu schдtzen wisse und die Mцglichkeiten, mit Titorelli zusammenzukommen, sofort ьberlege, aber wenn er Titorellis Beistand fьr wertvoll angesehen hдtte, hдtte er auch nicht gezцgert, ihm wirklich zu schreiben. Die Gefahren aber, die das zur Folge haben kцnnte, hatte er erst durch die Bemerkung des Fabrikanten erkannt. Konnte er sich auf seinen eigenen Verstand tatsдchlich schon so wenig verlassen? Wenn es mцglich war, daЯ er einen fragwьrdigen Menschen durch einen deutlichen Brief in die Bank einlud, um von ihm, nur durch eine Tьr vom Direktor-Stellvertreter getrennt, Ratschlдge wegen seines Prozesses zu erbitten, war es dann nicht mцglich und sogar sehr wahrscheinlich, daЯ er auch andere Gefahren ьbersah oder in sie hineinrannte? Nicht immer stand jemand neben ihm, um ihn zu warnen. Und gerade jetzt, wo er mit gesammelten Krдften auftreten sollte, muЯten derartige, ihm bisher fremde Zweifel an seiner eigenen Wachsamkeit auftreten! Sollten die Schwierigkeiten, die er bei Ausfьhrung seiner Bьroarbeit fьhlte, nun auch im ProzeЯ beginnen? Jetzt allerdings begriff er es gar nicht mehr, wie es mцglich gewesen war, daЯ er an Titorelli hatte schreiben und ihn in die Bank einladen wollen.
Er schьttelte noch den Kopf darьber, als der Diener an seine Seite trat und ihn auf drei Herren aufmerksam machte, die hier im Vorzimmer auf einer Bank saЯen. Sie warteten schon lange darauf, zu K. vorgelassen zu werden. Jetzt, da der Diener mit K. sprach, waren sie aufgestanden, und jeder wollte eine gьnstige Gelegenheit ausnьtzen, um sich vor den anderen an K. heranzumachen. Da man von seiten der Bank so rьcksichtslos war, sie hier im Wartezimmer ihre Zeit verlieren zu lassen, wollten auch sie keine Rьcksicht mehr ьben. »Herr Prokurist«, sagte schon der eine. Aber K. hatte sich vom Diener den Winterrock bringen lassen und sagte, wдhrend er ihn mit Hilfe des Dieners anzog, allen dreien: »Verzeihen Sie, meine Herren, ich habe augenblicklich leider keine Zeit, Sie zu empfangen. Ich bitte Sie sehr um Verzeihung, aber ich habe einen dringenden Geschдftsgang zu erledigen und muЯ sofort weggehen. Sie haben ja selbst gesehen, wie lange ich jetzt aufgehalten wurde. Wдren Sie so freundlich, morgen oder wann immer wiederzukommen? Oder wollen wir die Sachen vielleicht telephonisch besprechen? Oder wollen Sie mir vielleicht jetzt kurz sagen, worum es sich handelt, und ich gebe Ihnen dann eine ausfьhrliche schriftliche Antwort. Am besten wдre es allerdings, Sie kдmen nдchstens.« Diese Vorschlдge K.s brachten die Herren, die nun vollstдndig nutzlos gewartet haben sollten, in solches Staunen, daЯ sie einander stumm ansahen. »Wir sind also einig?« fragte K., der sich nach dem Diener umgewendet hatte, der ihm nun auch den Hut brachte. Durch die offene Tьr von K.s Zimmer sah man, wie sich drauЯen der Schneefall sehr verstдrkt hatte. K. schlug daher den Mantelkragen in die Hцhe und knцpfte ihn hoch unter dem Halse zu.
Da trat gerade aus dem Nebenzimmer der Direktor-Stellvertreter, sah lдchelnd K. im Winterrock mit den Herren verhandeln und fragte: »Sie gehen jetzt weg, Herr Prokurist?« »Ja«, sagte K. und richtete sich auf, »ich habe einen Geschдftsgang zu machen.« Aber der Direktor-Stellvertreter hatte sich schon den Herren zugewendet. »Und die Herren?« fragte er. »Ich glaube, sie warten schon lange.« »Wir haben uns schon geeinigt«, sagte K. Aber nun lieЯen sich die Herren nicht mehr halten, umringten K. und erklдrten, daЯ sie nicht stundenlang gewartet hдtten, wenn ihre Angelegenheiten nicht wichtig wдren und nicht jetzt, und zwar ausfьhrlich und unter vier Augen, besprochen werden mьЯten. Der Direktor-Stellvertreter hцrte ihnen ein Weilchen zu, betrachtete auch K., der den Hut in der Hand hielt und ihn stellenweise von Staub reinigte, und sagte dann: »Meine Herren, es gibt ja einen sehr einfachen Ausweg. Wenn Sie mit mir vorlieb nehmen wollen, ьbernehme ich sehr gerne die Verhandlungen statt des Herren Prokuristen. Ihre Angelegenheiten mьssen natьrlich sofort besprochen werden. Wir sind Geschдftsleute wie Sie und wissen die Zeit von Geschдftsleuten richtig zu bewerten. Wollen Sie hier eintreten?« Und er цffnete die Tьr, die zu dem Vorzimmer seines Bьros fьhrte.
Wie sich doch der Direktor-Stellvertreter alles anzueignen verstand, was K. jetzt notgedrungen aufgeben muЯte! Gab aber K. nicht mehr auf, als unbedingt nцtig war? Wдhrend er mit unbestimmten und, wie er sich eingestehen muЯte, sehr geringen Hoffnungen zu einem unbekannten Maler lief, erlitt hier sein Ansehen eine unheilbare Schдdigung. Es wдre wahrscheinlich viel besser gewesen, den Winterrock wieder auszuziehen und wenigstens die zwei Herren, die ja nebenan doch noch warten muЯten, fьr sich zurьckzugewinnen. K. hдtte es vielleicht auch versucht, wenn er nicht jetzt in seinem Zimmer den Direktor-Stellvertreter erblickt hдtte, wie er im Bьcherstдnder, als wдre es sein eigener, etwas suchte. Als K. sich erregt der Tьr nдherte, rief er: »Ach, Sie sind noch nicht weggegangen!« Er wandte ihm sein Gesicht zu, dessen viele straffe Falten nicht Alter, sondern Kraft zu beweisen schienen, und fing sofort wieder zu suchen an. »Ich suche eine Vertragsabschrift«, sagte er, »die sich, wie der Vertreter der Firma behauptet, bei Ihnen befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchen helfen?« K. machte einen Schritt, aber der Direktor-Stellvertreter sagte: »Danke, ich habe es schon gefunden«, und kehrte mit einem groЯen Paket Schriften, das nicht nur die Vertragsabschrift, sondern gewiЯ noch vieles andere enthielt, wieder in sein Zimmer zurьck.
»Jetzt bin ich ihm nicht gewachsen«, sagte sich K., »wenn aber meine persцnlichen Schwierigkeiten einmal beseitigt sein werden, dann soll er wahrhaftig der erste sein, der es zu fьhlen bekommt, und zwar mцglichst bitter.« Durch diesen Gedanken ein wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der schon lange die Tьr zum Korridor fьr ihn offenhielt, den Auftrag, dem Direktor gelegentlich die Meldung zu machen, daЯ er sich auf einem Geschдftsgang befinde, und verlieЯ, fast glьcklich darьber, sich eine Zeitlang vollstдndiger seiner Sache widmen zu kцnnen, die Bank.
Er fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadt wohnte, die jener, in welcher sich die Gerichtskanzleien befanden, vollstдndig entgegengesetzt war. Es war eine noch дrmere Gegend, die Hдuser noch dunkler, die Gassen voll Schmutz, der auf dem zerflossenen Schnee langsam umhertrieb. Im Hause, in dem der Maler wohnte, war nur ein Flьgel des groЯen Tores geцffnet, in den anderen aber war unten in der Mauer eine Lьcke gebrochen, aus der gerade, als sich K. nдherte, eine widerliche, gelbe, rauchende Flьssigkeit herausschoЯ, vor der sich einige Ratten in den nahen Kanal flьchteten. Unten an der Treppe lag ein kleines Kind bдuchlings auf der Erde und weinte, aber man hцrte es kaum infolge des alles ьbertцnenden Lдrms, der aus einer Klempnerwerkstдtte auf der anderen Seite des Torganges kam. Die Tьr der Werkstдtte war offen, drei Gehilfen standen im Halbkreis um irgendein Werkstьck, auf das sie mit den Hдmmern schlugen. Eine groЯe Platte WeiЯblech, die an der Wand hing, warf ein bleiches Licht, das zwischen zwei Gehilfen eindrang und die Gesichter und Arbeitsschьrzen erhellte. K. hatte fьr alles nur einen flьchtigen Blick, er wollte mцglichst rasch hier fertig werden, nur den Maler mit ein paar Worten ausforschen und sofort wieder in die Bank zurьckgehen. Wenn er hier nur den kleinsten Erfolg hatte, sollte das auf seine heutige Arbeit in der Bank noch eine gute Wirkung ausьben. Im dritten Stockwerk muЯte er seinen Schritt mдЯigen, er war ganz auЯer Atem, die Treppen, ebenso wie die Stockwerke, waren ьbermдЯig hoch, und der Maler sollte ganz oben in einer Dachkammer wohnen. Auch war die Luft sehr drьckend, es gab keinen Treppenhof, die enge Treppe war auf beiden Seiten von Mauern eingeschlossen, in denen nur hier und da fast ganz oben kleine Fenster angebracht waren. Gerade als K. ein wenig stehenblieb, liefen ein paar kleine Mдdchen aus einer Wohnung heraus und eilten lachend die Treppe weiter hinauf. K. folgte ihnen langsam, holte eines der Mдdchen ein, das gestolpert und hinter den anderen zurьckgeblieben war, und fragte es, wдhrend sie nebeneinander weiterstiegen: »Wohnt hier ein Maler Titorelli?« Das Mдdchen, ein kaum dreizehnjдhriges, etwas buckliges Mдdchen, stieЯ ihn darauf mit dem Ellbogen an und sah von der Seite zu ihm auf. Weder ihre Jugend noch ihr Kцrperfehler hatte verhindern kцnnen, daЯ sie schon ganz verdorben war. Sie lдchelte nicht einmal, sondern sah K. ernst mit scharfem, aufforderndem Blicke an. K. tat, als hдtte er ihr Benehmen nicht bemerkt, und fragte: »Kennst du den Maler Titorelli?« Sie nickte und fragte ihrerseits: »Was wollen Sie von ihm?« K. schien es vorteilhaft, sich noch schnell ein wenig ьber Titorelli zu unterrichten: »Ich will mich von ihm malen lassen«, sagte er. »Malen lassen?« fragte sie, цffnete ьbermдЯig den Mund, schlug leicht mit der Hand gegen K., als hдtte er etwas auЯerordentlich Ьberraschendes oder Ungeschicktes gesagt, hob mit beiden Hдnden ihr ohnedies sehr kurzes Rцckchen und lief, so schnell sie konnte, hinter den andern Mдdchen her, deren Geschrei schon undeutlich in der Hцhe sich verlor. Bei der nдchsten Wendung der Treppe aber traf K. schon wieder alle Mдdchen. Sie waren offenbar von der Buckligen von K.s Absicht verstдndigt worden und erwarteten ihn. Sie standen zu beiden Seiten der Treppe, drьckten sich an die Mauer, damit K. bequem zwischen ihnen durchkomme, und glдtteten mit der Hand ihre Schьrzen. Alle Gesichter, wie auch diese Spalierbildung, stellten eine Mischung von Kindlichkeit und Verworfenheit dar. Oben, an der Spitze der Mдdchen, die sich jetzt hinter K. lachend zusammenschlossen, war die Bucklige, welche die Fьhrung ьbernahm. K. hatte es ihr zu verdanken, daЯ er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte nдmlich geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm, daЯ er eine Abzweigung der Treppe wдhlen mьsse, um zu Titorelli zu kommen. Die Treppe, die zu ihm fьhrte, war besonders schmal, sehr lang, ohne Biegung, in ihrer ganzen Lдnge zu ьbersehen und oben unmittelbar vor Titorellis Tьr abgeschlossen. Diese Tьr, die durch ein kleines, schief ьber ihr eingesetztes Oberlichtfenster im Gegensatz zur ьbrigen Treppe verhдltnismдЯig hell beleuchtet wurde, war aus nicht ьbertьnchten Balken zusammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit roter Farbe in breiten Pinselstrichen gemalt war. K. war mit seinem Gefolge noch kaum in der Mitte der Treppe, als oben, offenbar veranlaЯt durch das Gerдusch der vielen Schritte, die Tьr ein wenig geцffnet wurde und ein wahrscheinlich nur mit einem Nachthemd bekleideter Mann in der Tьrspalte erschien. »Oh!« rief er, als er die Menge kommen sah, und verschwand. Die Bucklige klatschte vor Freude in die Hдnde, und die ьbrigen Mдdchen drдngten hinter K., um ihn schneller vorwдrtszutreiben.
Sie waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen, als oben der Maler die Tьr gдnzlich aufriЯ und mit einer tiefen Verbeugung K. einlud, einzutreten. Die Mдdchen dagegen wehrte er ab, er wollte keine von ihnen einlassen, sosehr sie baten und sosehr sie versuchten, wenn schon nicht mit seiner Erlaubnis, so gegen seinen Willen einzudringen. Nur der Buckligen gelang es, unter seinem ausgestreckten Arm durchzuschlьpfen, aber der Maler jagte hinter ihr her, packte sie bei den Rцcken, wirbelte sie einmal um sich herum und setzte sie dann vor die Tьr bei den anderen Mдdchen ab, die es, wдhrend der Maler seinen Posten verlassen hatte, doch nicht gewagt hatten, die Schwelle zu ьberschreiten. K. wuЯte nicht, wie er das Ganze beurteilen sollte, es hatte nдmlich den Anschein, als ob alles in freundschaftlichem Einvernehmen geschehe. Die Mдdchen bei der Tьr streckten, eines hinter dem anderen, die Hдlse in die Hцhe, riefen dem Maler verschiedene scherzhaft gemeinte Worte zu, die K. nicht verstand, und auch der Maler lachte, wдhrend die Bucklige in seiner Hand fast flog. Dann schloЯ er die Tьr, verbeugte sich nochmals vor K., reichte ihm die Hand und sagte, sich vorstellend: »Kunstmaler Titorelli.« K. zeigte auf die Tьr, hinter der die Mдdchen flьsterten, und sagte: »Sie scheinen im Hause sehr beliebt zu sein.« »Ach, die Fratzen!« sagte der Maler und suchte vergebens sein Nachthemd am Halse zuzuknцpfen. Er war im ьbrigen bloЯfьЯig und nur noch mit einer breiten, gelblichen Leinenhose bekleidet, die mit einem Riemen festgemacht war, dessen langes Ende frei hin und her schlug. »Diese Fratzen sind mir eine wahre Last«, fuhr er fort, wдhrend er vom Nachthemd, dessen letzter Knopf gerade abgerissen war, ablieЯ, einen Sessel holte und K. zum Niedersetzen nцtigte. »Ich habe eine von ihnen – sie ist heute nicht einmal dabei – einmal gemalt, und seitdem verfolgen mich alle. Wenn ich selbst hier bin, kommen sie nur herein, wenn ich es erlaube, bin ich aber einmal weg, dann ist immer zumindest eine da. Sie haben sich einen Schlьssel zu meiner Tьr machen lassen, den sie untereinander verleihen. Man kann sich kaum vorstellen, wie lдstig das ist. Ich komme zum Beispiel mit einer Dame, die ich malen soll, nach Hause, цffne die Tьr mit meinem Schlьssel und finde etwa die Bucklige dort beim Tischchen, wie sie sich mit dem Pinsel die Lippen rot fдrbt, wдhrend ihre kleinen Geschwister, die sie zu beaufsichtigen hat, sich herumtreiben und das Zimmer in allen Ecken verunreinigen. Oder ich komme, wie es mir erst gestern geschehen ist, spдtabends nach Hause – entschuldigen Sie, bitte, mit Rьcksicht darauf meinen Zustand und die Unordnung im Zimmer –, also ich komme spдtabends nach Hause und will ins Bett steigen, da zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bett und ziehe wieder so ein Ding heraus. Warum sie sich so zu mir drдngen, weiЯ ich nicht, daЯ ich sie nicht zu mir zu locken suche, dьrften Sie eben bemerkt haben. Natьrlich bin ich dadurch auch in meiner Arbeit gestцrt. Wдre mir dieses Atelier nicht umsonst zur Verfьgung gestellt, ich wдre schon lдngst ausgezogen.« Gerade rief hinter der Tьr ein Stimmchen, zart und дngstlich: »Titorelli, dьrfen wir schon kommen?« »Nein«, antwortete der Maler. »Ich allein auch nicht?« fragte es wieder. »Auch nicht«, sagte der Maler, ging zur Tьr und sperrte sie ab.
K. hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, er wдre niemals selbst auf den Gedanken gekommen, daЯ man dieses elende kleine Zimmer ein Atelier nennen kцnnte. Mehr als zwei lange Schritte konnte man der Lдnge und Quere nach kaum hier machen. Alles, FuЯboden, Wдnde und Zimmerdecke, war aus Holz, zwischen den Balken sah man schmale Ritzen. K. gegenьber stand an der Wand das Bett, das mit verschiedenfarbigem Bettzeug ьberladen war. In der Mitte des Zimmers war auf einer Staffelei ein Bild, das mit einem Hemd verhьllt war, dessen Дrmel bis zum Boden baumelten. Hinter K. war das Fenster, durch das man in Nebel nicht weiter sehen konnte als ьber das mit Schnee bedeckte Dach des Nachbarhauses.
Das Umdrehen des Schlьssels im SchloЯ erinnerte K. daran, daЯ er bald hatte weggehen wollen. Er zog daher den Brief des Fabrikanten aus der Tasche, reichte ihn dem Maler und sagte: »Ich habe durch diesen Herrn, Ihren Bekannten, von Ihnen erfahren und bin auf seinen Rat hin gekommen.« Der Maler las den Brief flьchtig durch und warfihn aufs Bett. Hдtte der Fabrikant nicht auf das bestimmteste von Titorelli als von seinem Bekannten gesprochen, als von einem armen Menschen, der auf seine Almosen angewiesen war, so hдtte man jetzt wirklich glauben kцnnen, Titorelli kenne den Fabrikanten nicht oder wisse sich an ihn wenigstens nicht zu erinnern. Ьberdies fragte nun der Maler: »Wollen Sie Bilder kaufen oder sich selbst malen lassen?« K. sah den Maler erstaunt an. Was stand denn eigentlich in dem Brief? K. hatte es als selbstverstдndlich angenommen, daЯ der Fabrikant in dem Brief den Maler davon unterrichtet hatte, daЯ K. nichts anderes wollte, als sich hier wegen seines Prozesses zu erkundigen. Er war doch gar zu eilig und unьberlegt hierhergelaufen! Aber er muЯte jetzt dem Maler irgendwie antworten und sagte mit einem Blick auf die Staffelei: »Sie arbeiten gerade an einem Bild?« »Ja«, sagte der Maler und warf das Hemd, das ьber der Staffelei hing, dem Brief nach auf das Bett. »Es ist ein Portrдt. Eine gute Arbeit, aber noch nicht ganz fertig.« Der Zufall war K. gьnstig, die Mцglichkeit, vom Gericht zu reden, wurde ihm fцrmlich dargeboten, denn es war offenbar das Portrдt eines Richters. Es war ьbrigens dem Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffallend дhnlich. Es handelte sich hier zwar um einen ganz anderen Richter, einen dicken Mann mit schwarzem, buschigem Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreichte, auch war jenes Bild ein Цlbild, dieses aber mit Pastellfarben schwach und undeutlich angesetzt. Aber alles ьbrige war дhnlich, denn auch hier wollte sich gerade der Richter von seinem Thronsessel, dessen Seitenlehnen er festhielt, drohend erheben. »Das ist ja ein Richter«, hatte K. gleich sagen wollen, hielt sich dann aber vorlдufig noch zurьck und nдherte sich dem Bild, als wolle er es in den Einzelheiten studieren. Eine groЯe Figur, die in der Mitte der Rьckenlehne des Thronsessels stand, konnte er sich nicht erklдren und fragte den Maler nach ihr. Sie mьsse noch ein wenig ausgearbeitet werden, antwortete der Maler, holte von einem Tischchen einen Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den Rдndern der Figur, ohne sie aber dadurch fьr K. deutlicher zu machen. »Es ist die Gerechtigkeit«, sagte der Maler schlieЯlich. »Jetzt erkenne ich sie schon«, sagte K., »hier ist die Binde um die Augen und hier die Waage. Aber sind nicht an den Fersen Flьgel und befindet sie sich nicht im Lauf?« »Ja«, sagte der Maler, »ich muЯte es ьber Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgцttin in einem.« »Das ist keine gute Verbindung«, sagte K. lдchelnd, »die Gerechtigkeit muЯ ruhen, sonst schwankt die Waage, und es ist kein gerechtes Urteil mцglich.« »Ich fьge mich darin meinem Auftraggeber«, sagte der Maler. »Ja gewiЯ«, sagte K., der mit seiner Bemerkung niemanden hatte krдnken wollen. »Sie haben die Figur so gemalt, wie sie auf dem Thronsessel wirklich steht.« »Nein«, sagte der Maler, »ich habe weder die Figur noch den Thronsessel gesehen, das alles ist Erfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zu malen habe.« »Wie?« fragte K., er tat absichtlich, als verstehe er den Maler nicht vцllig, »es ist doch ein Richter, der auf dem Richterstuhl sitzt?« »Ja«, sagte der Maler, »aber er ist kein hoher Richter und ist niemals auf einem solchen Thronsessel gesessen.« »Und lдЯt sich doch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da wie ein Gerichtsprдsident.« »Ja, eitel sind die Herren«, sagte der Maler. »Aber sie haben die hцhere Erlaubnis, sich so malen zu lassen. Jedem ist genau vorgeschrieben, wie er sich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade nach diesem Bilde die Einzelheiten der Tracht und des Sitzes nicht beurteilen, die Pastellfarben sind fьr solche Darstellungen nicht geeignet.« »Ja«, sagte K., »es ist sonderbar, daЯ es in Pastellfarben gemalt ist.« »Der Richter wьnschte es so«, sagte der Maler, »es ist fьr eine Dame bestimmt.« Der Anblick des Bildes schien ihm Lust zur Arbeit gemacht zu haben, er krempelte die Hemdдrmel aufwдrts, nahm einige Stifte in die Hand, und K. sah zu, wie unter den zitternden Spitzen der Stifte anschlieЯend an den Kopf des Richters ein rцtlicher Schatten sich bildete, der strahlenfцrmig gegen den Rand des Bildes verging. Allmдhlich umgab dieses Spiel des Schattens den Kopf wie ein Schmuck oder eine hohe Auszeichnung. Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bis auf eine unmerkliche Tцnung hell, in dieser Helligkeit schien die Figur besonders vorzudringen, sie erinnerte kaum mehr an die Gцttin der Gerechtigkeit, aber auch nicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr vollkommen wie die Gцttin der Jagd aus. Die Arbeit des Malers zog K. mehr an, als er wollte; schlieЯlich aber machte er sich doch Vorwьrfe, daЯ er so lange schon hier war und im Grunde noch nichts fьr seine eigene Sache unternommen hatte. »Wie heiЯt dieser Richter?« fragte er plцtzlich. »Das darf ich nicht sagen«, antwortete der Maler, er war tief zum Bild hinabgebeugt und vernachlдssigte deutlich seinen Gast, den er doch zuerst so rьcksichtsvoll empfangen hatte. K. hielt das fьr eine Laune und дrgerte sich darьber, weil er dadurch Zeit verlor. »Sie sind wohl ein Vertrauensmann des Gerichtes?« fragte er. Sofort legte der Maler die Stifte beiseite, richtete sich auf, rieb die Hдnde aneinander und sah K. lдchelnd an. »Nur immer gleich mit der Wahrheit heraus«, sagte er, »Sie wollen etwas ьber das Gericht erfahren, wie es ja auch in Ihrem Empfehlungsschreiben steht, und haben zunдchst ьber meine Bilder gesprochen, um mich zu gewinnen. Aber ich nehme das nicht ьbel, Sie konnten ja nicht wissen, daЯ das bei mir unangebracht ist. Oh, bitte!« sagte er scharf abwehrend, als K. etwas einwenden wollte. Und fuhr dann fort: »Im ьbrigen haben Sie mit Ihrer Bemerkung vollstдndig recht, ich bin ein Vertrauensmann des Gerichtes.« Er machte eine Pause, als wolle er K. Zeit lassen, sich mit dieser Tatsache abzufinden. Man hцrte jetzt wieder hinter der Tьr die Mдdchen. Sie drдngten sich wahrscheinlich um das Schlьsselloch, vielleicht konnte man auch durch die Ritzen ins Zimmer hineinsehen. K. unterlieЯ es, sich irgendwie zu entschuldigen, denn er wollte den Maler nicht ablenken, wohl aber wollte er nicht, daЯ der Maler sich allzusehr ьberhebe und sich auf diese Weise gewissermaЯen unerreichbar mache, er fragte deshalb: »Ist das eine цffentlich anerkannte Stellung?« »Nein«, sagte der Maler kurz, als sei ihm dadurch die weitere Rede verschlagen. K. wollte ihn aber nicht verstummen lassen und sagte: »Nun, oft sind derartige nichtanerkannte Stellungen einfluЯreicher als die anerkannten.« »Das ist eben bei mir der Fall«, sagte der Maler und nickte mit zusammengezogener Stirn. »Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten ьber Ihren Fall, er fragte mich, ob ich Ihnen nicht helfen wollte, ich antwortete: ›Der Mann kann ja einmal zu mir kommen‹, und nun freue ich mich, Sie so bald hier zu sehen. Die Sache scheint Ihnen ja sehr nahezugehen, worьber ich mich natьrlich gar nicht wundere. Wollen Sie vielleicht zunдchst Ihren Rock ablegen?« Obwohl K. beabsichtigte, nur ganz kurze Zeit hierzubleiben, war ihm diese Aufforderung des Malers doch sehr willkommen. Die Luft im Zimmer war ihm allmдhlich drьckend geworden, цfters hatte er schon verwundert auf einen kleinen, zweifellos nicht geheizten Eisenofen in der Ecke hingesehen, die Schwьle im Zimmer war unerklдrlich. Wдhrend er den Winterrock ablegte und auch noch den Rock aufknцpfte, sagte der Maler, sich entschuldigend: »Ich muЯ Wдrme haben. Es ist hier doch sehr behaglich, nicht? Das Zimmer ist in dieser Hinsicht sehr gut gelegen.« K. sagte nichts dazu, aber es war eigentlich nicht die Wдrme, die ihm Unbehagen machte, es war vielmehr die dumpfe, das Atmen fast behindernde Luft, das Zimmer war wohl schon lange nicht gelьftet. Diese Unannehmlichkeit wurde fьr K. dadurch verstдrkt, daЯ ihn der Maler bat, sich auf das Bett zu setzen, wдhrend er selbst sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers vor der Staffelei niedersetzte. AuЯerdem schien es der Maler miЯzuverstehen, warum K. nur am Bettrand blieb, er bat vielmehr, K. mцchte es sich bequem machen und ging, da K. zцgerte, selbst hin und drдngte ihn tief in die Betten und Polster hinein. Dann kehrte er wieder zu seinem Sessel zurьck und stellte endlich die erste sachliche Frage, die K. alles andere vergessen lieЯ. »Sie sind unschuldig?« fragte er. »Ja«, sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm geradezu Freude, besonders da sie gegenьber einem Privatmann, also ohne jede Verantwortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese Freude auszukosten, fьgte er noch hinzu: »Ich bin vollstдndig unschuldig.« »So«, sagte der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plцtzlich hob er wieder den Kopf und sagte: »Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache sehr einfach.« K.s Blick trьbte sich, dieser angebliche Vertrauensmann des Gerichtes redete wie ein unwissendes Kind. »Meine Unschuld vereinfacht die Sache nicht«, sagte K. Er muЯte trotz allem lдcheln und schьttelte langsam den Kopf. »Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht verliert. Zum SchluЯ aber zieht es von irgendwoher, wo ursprьnglich gar nichts gewesen ist, eine groЯe Schuld hervor.« »Ja, ja gewiЯ«, sagte der Maler, als stцre K. unnцtigerweise seinen Gedankengang. »Sie sind aber doch unschuldig?« »Nun ja«, sagte K. »Das ist die Hauptsache«, sagte der Maler. Er war durch Gegengrьnde nicht zu beeinflussen, nur war es trotz seiner Entschiedenheit nicht klar, ob er aus Ьberzeugung oder nur aus Gleichgьltigkeit so redete. K. wollte das zunдchst feststellen und sagte deshalb: »Sie kennen ja gewiЯ das Gericht viel besser als ich, ich weiЯ nicht viel mehr, als was ich darьber, allerdings von ganz verschiedenen Leuten, gehцrt habe. Darin stimmten aber alle ьberein, daЯ leichtsinnige Anklagen nicht erhoben werden und daЯ das Gericht, wenn es einmal anklagt, fest von der Schuld des Angeklagten ьberzeugt ist und von dieser Ьberzeugung nur schwer abgebracht werden kann.« »Schwer?« fragte der Maler und warf eine Hand in die Hцhe. »Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn ich hier alle Richter nebeneinander auf eine Leinwand male und Sie werden sich vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem wirklichen Gericht.« »Ja«, sagte K. fьr sich und vergaЯ, daЯ er den Maler nur hatte ausforschen wollen.
Wieder begann ein Mдdchen hinter der Tьr zu fragen: »Titorelli, wird er denn nicht schon bald weggehen?« »Schweigt!« rief der Maler zur Tьr hin, »seht ihr denn nicht, daЯ ich mit dem Herrn eine Besprechung habe?« Aber das Mдdchen gab sich damit nicht zufrieden, sondern fragte: »Du wirst ihn malen?« Und als der Maler nicht antwortete, sagte sie noch: »Bitte, mal ihn nicht, einen so hдЯlichen Menschen.« Ein Durcheinander unverstдndlicher zustimmender Zurufe folgte.
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